Der Polizist, der die ganze Bande aufs Revier gebracht hatte, gab konfuse Erklärungen ab, aber Nour El Dine hörte ihm überhaupt nicht zu. Er konnte sich einfach nicht an seine Stelle versetzen; das alles lag seinem eigenen Denken so fern. Diese Geschichte mit der Schlägerei in einem Cafe wurde immer verworrener. Wer hatte mit der Schlägerei angefangen? Niemand wußte es. Nour El Dine verfolgte von seinem Schreibtisch aus die ganze Szene mit unsagbar verächtlichem Blick. Manchmal seufzte er laut, wie jemand, der völlig entnervt ist und kurz davor steht, eine Verzweiflungstat zu begehen. Da standen sie nun in einer Reihe vor ihm: drei breitschultrige Männer mit groben Händen - wahrscheinlich Fuhrleute - und eine abgemagerte Gestalt mit blutigem Gesicht, deren Kleidung aus Lumpen bestand. Nach Angaben des Polizisten handelte es sich um einen Bettler. Er stand erhobenen Hauptes da und fixierte den Polizeioffizier durch seine verschwollenen Augen mit einer Art herausfordernder Überheblichkeit.
Nour El Dine entschloß sich schließlich, ihn zu befragen:
»Sind das die Männer, die dich geschlagen haben? Erkennst du sie wieder?«
Der Mann mit dem blutigen Gesicht zuckte zusammen und trat einen Schritt auf den Polizeioffizier zu. Man hätte meinen können, daß dieser gerade seine Mutter beleidigt hatte.
»Mich schlagen?« empörte er sich. »Wer würde es wagen, mich zu schlagen?«
»Worüber beklagst du dich dann, du Hundesohn?«
»Ich beklage mich nicht, Exzellenz! Wer hat gesagt, daß ich mich beklage?«
Die drei Männer mit der Statur von Fuhrleuten blieben regungslos und stumm stehen. Sie verfolgten das Verhalten ihres Opfers mit boshaftem Vergnügen. Nour El Dine machte Anstalten aufzustehen; er hatte Lust, sie alle zu verprügeln. Aber plötzlich spürte er die Sinnlosigkeit seines Vorhabens und hielt sich zurück. Äußerlich war er immer noch ein in seine Uniform gezwängter Polizeioffizier, hart und unnachgiebig, aber in seinem tiefsten Inneren befand sich alles in einem Zustand der Auflösung. Er wußte nicht zu sagen, welche tödliche Krankheit von ihm Besitz ergriffen hatte und es ihm unmöglich machte, seiner Autorität Geltung zu verschaffen. Ihm schien, als gebe es die Macht, aus der er seine Kraft bezog, nicht mehr, als habe sie niemals existiert. Zum Erstaunen der Anwesenden faßte er sich mit der Hand an die Stirn und stützte sich mit einer Gebärde tiefer Niedergeschlagenheit auf seinen Schreibtisch.
Der Polizist beugte sich zu ihm herüber und fragte mit leiser Stimme:
»Bist du krank, mein Bey?«
»Sperr die ganze Bande in eine Zelle«, antwortete Nour El Dine. »Ich will sie nicht mehr sehen.«
Nachdem der Polizist und die vier Männer den Raum verlassen hatten, sah Nour El Dine den Polizisten in Zivil an, der auf einem Stuhl saß und bereits eine Zeitlang wartete. Es war derjenige, den er mit der Überwachung des Bordells beauftragt hatte.
»Was hast du mir zu sagen?«
»In Wahrheit, Exzellenz, gibt es nichts Neues zu berichten. Ich glaube, daß mein Auftrag sinnlos geworden ist. Alle dort scheinen zu wissen, wer ich bin.«
»Das wundert mich nicht bei dir. Du hast bestimmt alles getan, um dich zu verraten.«
»Trotzdem habe ich einige Dinge herausgefunden, Exzellenz! Das Geständnis dieses jungen Mannes...«
»Ich weiß«, unterbrach ihn Nour El Dine. »Er hat dich zum Narren gehalten.«
»Das verstehe ich nicht.«
»Versuch um Himmels willen nicht, es zu verstehen; du würdest ein Unglück heraufbeschwören! Sag mal, ist dir an diesem Gohar Effendi nichts Besonderes aufgefallen?«
»Nein. Er ist ein kluger Mann mit guten Manieren. Er kam mir nie verdächtig vor.«
»Nun gut. Ein Grund mehr, daß er es für mich wird. Du kannst jetzt gehen.«
Nachdem er allein war, nahm Nour El Dine den Kopf zwischen seine Hände und seufzte erleichtert. Er war mit den Nerven am Ende. Diese Lumpenbande ließ ihn nicht zur Ruhe kommen. Nour El Dine hätte sie am liebsten alle umgebracht, um nichts mehr von ihnen zu hören. Seit einiger Zeit erfüllte er die Pflichten seines Amtes auf eine groteske Art und Weise. Das Eindringen eines dunklen Elements in sein Leben versetzte ihn in einen Zustand grausamer Hilflosigkeit. Was war das nur für eine merkwürdige Schwäche und Niedergeschlagenheit, die ihn mitten in einem Verhör lähmte und jeden Willen erstickte? Er wurde noch verrückt darüber.
Das Unglaubliche war dieser Stolz, auf den er überall in seiner Umgebung stieß, und selbst bei den Allerärmsten, bei denen man ihn am wenigsten erwarten konnte. Die Erinnerung an diesen ausgehungerten Bettler, an sein aufgequollenes und blutiges Gesicht, ließ ihn nicht los. Ein seltsamer Kerl. Er wollte einfach nicht zugeben, daß er geschlagen worden war. Woher kam nur dieser Stolz? Nour El Dine sah sich vor einem Rätsel, das er nicht lösen konnte; ein Rätsel, das sich allen polizeilichen Ermittlungen entzog. Was veranlaßte ihn eigentlich dazu, weiterhin diese Arbeit zu tun, bei der man immer nur der Dumme war? Glaubte er noch an sie? Sein ganzes Leben lang diese verdammte Brut an sich vorbeidefilieren zu sehen und den unglaublichen Hochmut dieser Bettler ertragen zu müssen, welch ein erbärmliches Vergnügen! Und das, während er selbst jeden Stolz aufgegeben hatte. Hatte er sich nicht beinahe vor Samir auf dem Boden gewälzt, nur um ihn zu erweichen? Und das Bitterste dabei war, daß diese schändliche Selbsterniedrigung nichts genutzt hatte; der junge Mann ließ sich nicht erweichen, legte eine frostige Feindseligkeit an den Tag. Und als er versucht hatte, ihn zu berühren - die unglücklichste aller Gesten -, hatte Samir ein kleines Messer aus der Tasche gezogen und ihn damit bedroht. Niemals würde Nour El Dine den Haß vergessen, den er in diesem Moment in seinen Augen lesen konnte. Dieses mörderische Funkeln! Noch beim bloßen Gedanken daran erschauderte er.
Vergessen, seinen Schmerz überwinden, das war gar nicht so einfach. Bei der Ausübung seiner Pflichten stieß er in jedem Augenblick auf den einfältigen Hochmut dieses elenden Gesindels. Dadurch wurde ihm seine Kränkung nur immer wieder von neuem zu Bewußtsein gebracht. Und warum das alles, mein Gott? Welches Vergnügen bezog er daraus? Er spürte mehr und mehr, daß er sich von diesen unzähligen sinnlosen Kämpfen, die ihm nichts als Verbitterung und Enttäuschung einbrachten, freimachen mußte. Sollten die Mörder es sich doch gutgehen lassen und in ihrem Bett sterben. Ihm konnte es nach alledem doch eigentlich egal sein.
Es war bereits dunkel, als er aufstand und auf die Straße hinaustrat. Die gelben Lichter der Straßenlaternen schimmerten am Rande des riesigen Platzes, der von Geschäften und lärmenden Cafes umgeben war. Nour El Dine hatte es eilig und überquerte die Fahrbahn, ohne auf den wogenden Verkehr zu achten. Der Lärm der Straßenbahnen und der schnell fahrenden Autos drang nur gedämpft und wie aus großer Ferne an seine Ohren. Seit einiger Zeit hatte er den Eindruck, als würden die Dinge von ihm abrücken und als würde er sie nur noch wie durch einen Schleier wahrnehmen. Mit verstörtem Blick, den Kragen seines Waffenrocks aufgeknöpft, durch die Kraft einer unheilvollen Macht in sein Schicksal getrieben, schritt er voran. Er konnte sich nicht selbst belügen: was ihn im Augenblick an Gohar anzog, stand in keinem Zusammenhang mit den Ermittlungen im Mordfall an der jungen Prostituierten. Seit seiner Begegnung mit Gohar und vor allem seit dem Gespräch, das er mit ihm geführt hatte, als er ihn bis zu seiner Tür begleitete, hatte sich Nour El Dines Berufsauffassung geändert. Nour El Dine begann zögerlich zu werden. Er, der nie Zweifel an der heiligen Macht gehegt hatte, über die er verfügte, begann sich zu fragen, was die Wahrheit denn eigentlich war. Nichts schien ihm mehr gewiß. Trotz seiner Überzeugung, daß Gohar der Mörder war, den er suchte - ohne allerdings tatsächlich einen stichhaltigen Beweis dafür zu haben -, interessierte er sich weiterhin mehr für Gohars Persönlichkeit als für die Festnahme eines Täters. Er war sich bewußt, daß Gohar ein Problem darstellte, dessen Lösung von fundamentaler Bedeutung für sein zukünftiges Leben sein würde. Während der ganzen Zeit, die er damit verbracht hatte, die Fakten zusammenzutragen, die zu einer Anklage Gohars führen sollten, hatte er das Gefühl, mit explosivem Material umzugehen, das, wenn es erst einmal hochgegangen wäre, nichts als Trümmer zurücklassen würde. Aber er spürte auch, daß aus diesen Trümmern der Frieden hervorgehen würde; dieser Frieden, den er im Umgang mit Gohar empfunden hatte und den er im Moment ganz furchtbar vermißte.
Nour El Dine verlor sich im Labyrinth der von den kümmerlichen Lichtern einiger weniger Straßenlaternen nur spärlich beleuchteten Gassen. Er erinnerte sich nicht genau daran, wo das Haus stand; alle diese baufälligen Häuser ähnelten einander in ihrem Zustand des allgemeinen Verfalls, in dem sie sich befanden. Er durchquerte das Viertel mehrmals, wobei er seinen Blick über die rissigen Fassaden streifen ließ und sich zu erinnern versuchte, bis vor welche Tür er Gohar an besagtem Abend begleitet hatte. Aber es war vergeblich; er wurde ganz wirr im Kopf; es gelang ihm nicht, den Ort mit Sicherheit wiederzuerkennen. Bitter enttäuscht wollte er schon wieder umkehren, als der Zufall ihm zu Hilfe kam: Als er an einer Tür vorüberging, stieß er mit jemandem zusammen.
»Was für eine freudige Überraschung!« sagte Gohar. »Wolltest du mir einen Besuch abstatten? Sei willkommen.«
»Ich war gerade im Viertel, und da kam mir der Gedanke, daß ich dich doch einmal besuchen könnte«, sagte Nour El Dine. »Ich hoffe, ich störe dich nicht.«
»Ganz und gar nicht. Es ist mir eine Ehre. Ein wirklich glücklicher Zufall! Normalerweise komme ich nicht so früh nach Hause, aber ich wollte dieses Paket in meinem Zimmer deponieren.«
Unter dem Arm trug Gohar einen großen Stapel alter Zeitungen, den er gegen die Hüfte preßte und nur mit Mühe festhalten konnte. Wegen des Gewichts seiner Last stand er mit vorgebeugtem Oberkörper da und schien außer Atem. Trotzdem betrachtete er den Polizeioffizier mit vergnügtem Blick, als würde diese Begegnung ihm eine eigenartige Befriedigung verschaffen. Er ahnte natürlich, daß sie nicht zufällig stattfand und Nour El Dine in der Absicht zu ihm kam, ihm Fragen über das Verbrechen zu stellen. Verdächtigte er ihn bereits? Jedenfalls hatte er diesen Besuch erwartet. Er hatte ihn sogar herbeigewünscht.
»Bitte verzeih, wenn ich vor dir hergehe«, sagte er, »aber ich muß dir den Weg zeigen. Ansonsten riskierst du dein Leben. Diese Treppe ist ein wahrer Abgrund; jede ihrer Stufen gleicht einer Falle.«
Einer nach dem anderen stiegen sie langsam die dunkle Treppe hinauf. Nour El Dine sah Gohar nicht in dieser undurchdringlichen Dunkelheit; er hörte lediglich seinen keuchenden und rauhen Atem. Er hatte den Eindruck, plötzlich blind geworden zu sein.
Endlich ein Lichtschimmer. Gohar blieb im Treppenflur stehen; die Tür zu seiner Nachbarwohnung, die vom Licht einer Petroleumlampe schwach erleuchtet wurde und leer zu sein schien, stand offen. Gohar blieb einige Sekunden lang unschlüssig stehen. Diese offene Tür machte ihm angst; er wollte nicht auf dieses furchtbare Klatschweib, seine Nachbarin, stoßen. Aber plötzlich setzte eine Stimme, die dem Jammern eines Kindes ähnelte, seinem Zögern ein Ende.
»Gute Leute! Helft mir!«
Gohar ging auf die Türschwelle zu und betrat dann die Wohnung seiner Nachbarn, um herauszufinden, woher dieser herzzerreißende Hilferuf kam. In einer Ecke des Zimmers entdeckte er auf dem Boden den Stumpf von einem Mann, der einer schwerbeschädigten Statue ähnelte. Mit tränenerfüllten Augen starrte der Stumpf-Mann wie ein Wahnsinniger auf einen Teller, der vor ihm stand und auf dem dicke Bohnen sowie ein Stück Brot lagen: sein Abendessen. Als Gohar sich ihm näherte, hob er den Kopf, und auf seinem Gesicht war der Ausdruck größter Erleichterung zu erkennen.
»Was kann ich für dich tun?« fragte Gohar.
»Ich habe Hunger«, antwortete der Stumpf-Mann. »Die Frau ist weggegangen und hat mich ganz allein zurückgelassen. Könntest du mir beim Essen helfen?«
»Aber sicher«, sagte Gohar.
Er beugte sich nieder, um seinen Zeitungsstapel auf den Boden zu legen, wodurch Nour El Dine im Türrahmen zu sehen war.
»Polizei!« rief der Stumpf-Mann, als er ihn sah. »Was hat die Polizei denn hier zu suchen?«
»Er ist ein Freund«, sagte Gohar. »Bleib ganz ruhig; er will dir nichts tun.«
»Ich will die Polizei hier nicht sehen. Er soll gehen!«
Der Stumpf-Mann vergaß seinen Hunger und dachte mit vor Angst verdrehten Augen nur noch an den unglaublichen Skandal, den die Anwesenheit eines Polizeioffiziers in seinem Elendsquartier darstellte. Auf seinem Sockel aus übereinandergestapelten Lumpen wand er sich hin und her, stieß Laute aus wie ein in die Falle gegangenes Tier und unternahm auf diese Weise den absurden Versuch, dem zu entgehen, was er für eine Verhaftung hielt. Seine verzweifelten Anstrengungen waren so ergreifend, daß Nour El Dine ihm schon zu Hilfe eilen wollte. Zu guter Letzt jedoch beruhigte er sich, und langsam wich seine Angst, er verharrte regungslos, mit offenem Mund, und wartete auf sein Essen. Mit seiner breiten, platten Nase, seinen dicken Lippen und seinen bärtigen, aufgedunsenen Wangen ähnelte er einer riesigen Kröte.
Gohar hockte sich neben ihn und fütterte ihn mit beinahe mütterlichem Feingefühl und mit Sanftmut. Er verhielt sich gegenüber dem Stumpf-Mann genauso, wie er es bei einem Kind getan hätte.
»Warum ist sie weggegangen?« fragte er. »Habt ihr euch gestritten?«
»Ja«, antwortete der Stumpf-Mann. »Diese Hündin ist eifersüchtig. Unentwegt macht sie mir Scherereien.«
»Sie ist eifersüchtig, weil sie dich liebt«, sagte Gohar. »Erzähl, was ist passiert?«
»Nun denn, als sie mich heute abend in der Stadt abholte, unterhielt ich mich gerade mit einer jungen Kippensammlerin. Das hat sie wütend gemacht. Jedesmal wenn sie eine Frau in meiner Nähe sieht, wird sie wahnsinnig vor Eifersucht. Und dabei bin ich ihr treu. Ich kann doch nichts dafür, wenn die Frauen sich ständig an mich heranmachen. Bei Gott, ich weiß nicht, was sie an mir so anziehend finden!«
Nour El Dine lehnte mit dem Rücken gegen den Türrahmen wie ein Verurteilter gegen seinen Marterpfahl. Die Worte des Stumpf-Mannes drangen kaum bis in sein Bewußtsein vor. Konnte das alles denn wahr sein? Eine derartige Selbstgefälligkeit und Überheblichkeit bei einem so abstoßenden menschlichen Wrack war für ihn einfach unvorstellbar. Ihm schien, als plusterte sich der Stumpf-Mann schamlos auf, wenn er von der Anziehungskraft sprach, die er auf die Frauen ausübte. Was ihn besonders an ihm faszinierte, war das Fehlen jeglicher Gestik; dieser Umstand verlieh den Äußerungen des Stumpf-Mannes einen ernsten und feierlichen Ton, die kalte Würde eines sprechenden Automaten. Nour El Dine hätte gern zu lachen angefangen, aber ein Reflex, der mit seinem Beruf zusammenhing, hielt ihn zurück. Was auch immer passierte, er mußte seine Seriosität wahren. Er war hierhergekommen, um einem Rätsel auf die Spur zu kommen; vielleicht würde er am Ende ja alles verstehen.
Der Stumpf-Mann aß mit schier unstillbarem Appetit. Von Zeit zu Zeit warf er Nour El Dine einen verstohlenen Blick zu; er konnte einfach noch nicht glauben, daß dieser Offizier ihm lediglich einen Höflichkeitsbesuch abstattete. Aus Furcht vor einer Festnahme schlang er das Essen zu hastig in sich hinein; er schien Gohar anzuflehen, sich zu beeilen und ihn vor allem nicht allein zu lassen.
»Mach dir keine Sorgen, sie wird bestimmt zurückkommen«, sagte Gohar.
»O nein, ich habe die Nase voll von ihr«, sagte der Stumpf-Mann. »Soll sie sich doch woanders vögeln lassen. Ich habe genug von ihr. Abgesehen davon wird sie mir zu alt. Ich werde sie verstoßen. Ich habe die Absicht, eine unberührte junge Frau zu heiraten.«
Er lächelte obszön, sah Gohar an und fügte hinzu:
»Was hältst du davon?«
Gohar rief sich das furchtbare Weib in Erinnerung und war glücklich darüber, bald eine junge Nachbarin zu haben.
»Ich denke, du hast recht«, antwortete er. »Es ist immer von Vorteil, eine junge Frau zu haben. Das ist zweifelsohne angenehmer.«
»Nicht wahr? Ich habe große Lust auf eine kleine Jungfrau. Ich hoffe, du wirst mir die Ehre erweisen und zu meiner Hochzeit kommen. Ich werde ein Hochzeitsessen geben.«
»Ich werde bestimmt dabeisein«, sagte Gohar. »Möchtest du etwas trinken?«
»Ja, bitte. Der Wasserkrug steht da.«
Der Wasserkrug stand hinter Gohar an der Wand. Er nahm ihn, führte ihn an den Mund des Stumpf-Mannes und gab ihm zu trinken.
»Ich danke dir«, sagte der Stumpf-Mann, nachdem er getrunken hatte. »Glaub mir, ich bin untröstlich, deine Liebenswürdigkeit derartig auszunutzen.«
»Es war mir eine Ehre und ein Vergnügen«, sagte Gohar.
»Ich stehe in deiner Schuld. Es wäre mir eine große Freude, auch dir einmal einen Gefallen zu tun.«
»Ich bin dein ergebener Diener«, sagte Gohar. »Ein Nachbar wie du ist ein Segen des Himmels.«
Dieser Austausch ausgesuchter Höflichkeiten war ganz und gar nicht nach dem Geschmack Nour El Dines. Er begann sich zu fragen, ob Gohar und der Stumpf-Mann sich nicht über ihn lustig machten. Einen Augenblick lang trug er sich mit dem Gedanken zu gehen, dieser Höllenvision zu entfliehen. Aber irgend etwas hielt ihn gegen seinen Willen zurück: er hätte das alles so gern verstanden. Wenn sie ihm doch nur erklären wollten, wie dieser Stumpf-Mann, dieser menschliche Abschaum, die Eifersucht einer Frau wecken konnte. Aber nein, Gohar unterhielt sich weiterhin mit dem Stumpf-Mann, wobei er Höflichkeitsbezeigungen an den Tag legte, als würde es sich um eine Unterhaltung zwischen Männern von Welt handeln. Nour El Dine gewann fast den Eindruck, lästig zu sein, wie angesichts eines Liebespaar, das sich gerade liebkost. Sein Wunsch, sich von diesem Ort zu entfernen, wurde immer stärker. Langsam tat er ein paar Schritte zurück und fand sich mit einem Mal allein im dunklen Hausflur wieder. Es war aber bereits zu spät, um der Falle zu entkommen, die ihm das Schicksal stellte. Er hörte schon die Stimme Gohars, der sich gerade von dem Stumpf-Mann verabschiedete.
»Gehab dich wohl! Ich werde dich bald einmal wieder besuchen.«
Gohar kam auf Zehenspitzen heraus. Er vermied es sorgsam, den Gehstock auf den Boden zu setzen und verhielt sich überhaupt äußerst vorsichtig, so als fürchtete er, den Schlaf eines Kranken zu stören. Mit dem heiteren Gesichtsausdruck eines Menschen, der gerade einem lustigen Schauspiel beigewohnt hat, ging er über den Flur und öffnete die Tür seines Zimmers.
»Nach dir, Exzellenz.«
Nour El Dine zögerte, bevor er über die Schwelle trat, doch dann wagte er sich mutig in die Dunkelheit vor, wie jemand, der entschlossen ist, sich in einen Abgrund zu stürzen. Er blieb stehen, ihm stockte der Atem: er war gegen einen Gegenstand aus Holz gestoßen. Er ging um das Hindernis herum und verharrte regungslos, darauf gefaßt, einen Dolchstoß mitten ins Herz zu bekommen. Ihm schien, als hielte sich Samir mit dem Messer in der Hand in der Finsternis versteckt, bereit, ihn zu töten. Einen Augenblick lang packte ihn eine grenzenlose Verwirrung; dann hörte er, daß Gohar irgendwo im Dunkeln herumhantierte, und kurze Zeit später erhellte die Flamme einer Kerze das Zimmer.
»Nimm doch bitte diesen Stuhl«, sagte Gohar. »Verzeih mir, daß ich dir nichts Besseres anbieten kann, Exzellenz. Das hier ist eine ärmliche Unterkunft. Fühle dich trotzdem wie zu Hause.«
Nour El Dine ließ sich auf den Stuhl fallen, antwortete aber nicht. Was bedeutete dieses Gerede? Hielt er ihn für einen Dummkopf? Sich wie zu Hause fühlen! Das war der Gipfel des Irrsinns. Nour El Dine stand kurz davor zu glauben, daß boshafte Geister alles versuchten, um ihn lächerlich zu machen. Er hatte damit gerechnet, eine heruntergekommene Wohnung mit erbärmlichen und verdreckten Möbeln vorzufinden, aber nicht das; diese absolute Ärmlichkeit, diese wunderbare Leere, die so verlockend war wie eine Fata Morgana, diese Nacktheit erschienen ihm verdächtig, und er sah sich unruhig und mißtrauisch um.
Den Rücken gegen die Wand gelehnt, saß Gohar auf dem Zeitungsstapel. Er hatte den Tarbusch nicht abgenommen und hielt immer noch seinen Gehstock in der Hand. Im Zimmer war es kalt und feucht. Nour El Dine knöpfte den Kragen seines Rocks zu, schüttelte den Kopf und sagte nach einem Moment des Schweigens:
»Das alles übersteigt meinen Verstand, Gohar Effendi!«
»Was willst du damit sagen?«
»Ich denke an diesen Bettler. Welche Überheblichkeit!
Wenn man ihn so hört, dann laufen ihm alle Frauen hinterher!«
»Vergiß nicht, Herr Offizier, daß dieser Bettler gerade wegen seiner Verstümmelung eine Goldmine ist. Das interessiert die Frauen.«
»Trotzdem, eine so abscheuliche Kreatur!«
»Er hat nichts Abscheuliches an sich«, sagte Gohar. »Vor allem nicht für eine Frau. Dieser Stumpf-Mann ist ein ebenso guter Liebhaber wie jeder andere auch. Und sogar noch besser als andere, wenn ich danach gehe, was ich mitangehört habe. Glaub mir, die Lustschreie der Frau waren kein Theater. Und eigentlich ist das doch recht tröstlich.«
»Was ist tröstlich?«
»Es ist tröstlich zu wissen«, sagte Gohar, »daß selbst ein Stumpf-Mann eine Frau befriedigen kann.«
»Ein solches Monster?«
»Dieses Monster besitzt uns gegenüber einen Vorteil, Herr Offizier. Er weiß, was Frieden ist. Er hat nichts mehr zu verlieren. Denk doch mal daran, daß man ihm nichts mehr wegnehmen kann.«
»Glaubst du, daß es so weit kommen muß, damit man seinen Frieden findet?«
»Ich weiß es nicht«, sagte Gohar. »Vielleicht muß man erst zu einem Stumpf-Mann werden, um zu erfahren, was Frieden ist. Mach dir doch nur einmal die Machtlosigkeit der Regierung einem Stumpf-Mann gegenüber bewußt! Was kann sie gegen ihn unternehmen?«
»Sie kann ihn aufhängen lassen«, antwortete Nour El Dine.
»Einen Stumpf-Mann aufhängen! Aber nicht doch, Exzellenz! Es gibt keine Regierung, die genügend Humor hätte, so etwas zu tun. Das wäre wirklich zu schön.«
»Du bist ein eigenartiger Mensch. Liest du all diese Zeitungen?«
»Gott behüte!« sagte Gohar. »Nein, sie dienen mir als Matratze.«
Als Nour El Dine begriff, welche Funktion die auf dem Boden ausgebreiteten Zeitungen hatten, ergriff ihn angesichts dieses so maßlosen Elends die Panik. Selbst der allerärmste Mensch, dachte er, schlief auf einer Matratze. Wie konnte man auf einem Haufen Zeitungen schlafen? Seiner Auffassung nach war dies ein Zeichen von Wahnsinn.
»Hast du kein Bett? Schläfst du auf diesem Zeitungshaufen?«
»Ich schlafe schon seit Jahren so, Exzellenz! Warum beunruhigt dich das?«
»Wie bist du in ein solches Elend geraten? Deiner Sprache nach bist du ein gebildeter Mann, ich würde sogar sagen, hochgebildet. Unter normalen Umständen hättest du eine gehobene Stellung in der sozialen Hierarchie bekleiden müssen. Und trotzdem lebst du wie ein Bettler. Hinter dieses Rätsel möchte ich gern kommen.«
»Da gibt es kein Rätsel. Ich lebe wie ein Bettler, weil ich es so will.«
»Bei Allah! Du bist ein erstaunlicher Mann. Deine Lebenseinstellung entzieht sich mehr und mehr meinem Verständnis.«
»Das liegt daran, Herr Offizier, daß du dich allzuleicht verblüffen läßt. Das Leben, das wirkliche Leben, ist von kindlicher Einfachheit. Es gibt kein Rätsel, nur Schweinehunde.«
»Wen bezeichnest du als Schweinehunde?«
»Wenn du nicht weißt, wer die Schweinehunde sind, dann bist du ein hoffnungsloser Fall. Das ist das einzige, was einem niemand beibringen kann, Herr Offizier.«
Die Hände zwischen die Knie geklemmt, ließ Nour El Dine den Kopf sinken; er schien über ein schwerwiegendes und quälendes Problem nachzudenken.
»Das Ganze ist etwas komplizierter«, sagte er schließlich. »Es gibt nicht nur die Guten und die Schweinehunde.«
»Nein«, erwiderte Gohar. »Diese feinen Unterschiede lasse ich nicht gelten. Erzähl mir nicht, das Ganze sei etwas komplizierter. Warum begreifst du nicht, daß lediglich die Schweinehunde von dieser angeblichen Kompliziertheit profitieren?«
Nour El Dine schwieg resigniert. Einmal mehr hatte sich der Überdruß seiner bemächtigt. Dieses leere Zimmer vermittelte ihm ein beruhigendes Gefühl, schien ihn vom Rest des Universums abzusondern. Er stellte sich vor, wie er, glücklich und untätig, frei von Angst, auf einem Haufen Zeitungen schliefe. Wozu anderswo nach einem unmöglichen Glück suchen? Es stimmte, daß einem in diesen vier Wänden, in diesem geistreich eingerichteten Nichts, nichts zustoßen konnte. Gohar hatte zweifellos recht. Wie ein Bettler zu leben, das hieß, dem Weg der Weisheit zu folgen. Ein Leben im ursprünglichen Zustand, ohne Zwang. Nour El Dine träumte von der Annehmlichkeit des freien und stolzen Bettlerdaseins, bei dem man nichts zu verlieren hatte. Er könnte sich schließlich seinem Laster hingeben, ohne Furcht und Scham. Er wäre sogar stolz auf dieses Laster, das ihm viele Jahre lang die schlimmsten Qualen bereitet hatte. Samir kam ihm wieder in den Sinn. Sein Haß würde wie von allein verschwinden, sobald er ihm ohne die Embleme der Macht entgegentrat, bar seiner Vorurteile und seiner schleimigen Moral. Weder seine Verachtung noch seinen Sarkasmus hätte er noch zu fürchten.
Aber es war nicht leicht, der Verführung nachzugeben. Er erhob sich von seinem Stuhl und machte ein paar Schritte im Zimmer auf und ab; als er dann zu seinem Platz zurückkehrte, blieb er vor Gohar stehen. Einen Moment lang bewunderte er das ruhige Gesicht seines Gastgebers, das vom flackernden Widerschein der Kerze beleuchtet wurde. Dieser Mann hatte zweifellos ein Verbrechen begangen, und trotzdem strahlte sein Gesicht absolute Gelassenheit aus. Er erschien ihm wie ein vollkommener Fremdkörper in der ihn umgebenden wirklichen Welt, unzugänglich für Angst und Leid. Ein klagender Seufzer drang aus der Brust Nour El Dines. Er fühlte, daß er noch nicht reif war für diese Ruhe, diese vollkommene Gleichgültigkeit, die das Leben als Bettler ihm abverlangen würde. Er war immer noch zu sehr den Zwängen seines Berufes unterworfen; sein Pflichtgefühl drängte ihn, seinen Auftrag zu erfüllen. Er konnte die Tatsache nicht völlig vergessen, daß er ein Polizeioffizier war, dessen Aufgabe darin bestand, dem Gesetz Geltung zu verschaffen, und der sich deshalb hier befand, um den Mord an einer jungen Prostituierten aufzuklären.
»In Wahrheit bin ich gekommen«, sagte er, »um dir ein paar Fragen zu stellen.«
»Ich höre«, sagte Gohar. »Du kannst mir alle Fragen stellen, die du willst.«
»Es geht immer noch um diesen Mord im Bordell«, fuhr Nour El Dine fort, indem er sich wieder auf den Stuhl setzte.
»Ich weiß«, sagte Gohar. »Ich habe deinen Besuch erwartet. Sprich, und ich werde dir antworten. In der Zwischenzeit werde ich dir einen Kaffee zubereiten. Entschuldige bitte, daß ich dir noch nichts zu trinken angeboten habe.«
»Ich möchte nichts«, sagte Nour El Dine. »Mach dir wegen mir keine Umstände.«
Gohar zündete jedoch den kleinen Spirituskocher an und begann Kaffee zu kochen. Während er Wasser in die Kaffeekanne goß, beobachtete er schweigend Nour El Dine. Er war gespannt, wie die Auflösung des Falls vonstatten gehen würde. Aber der Polizeioffizier stellte keine Fragen. Er schien in einem fernen Traum verloren.
Es war Gohar, der fragte:
»Verdächtigst du jemanden?«
»Wenn ich ehrlich bin, muß ich zugeben, daß ich dich verdächtige«, antwortete Nour El Dine mit einem verstörten Gesichtsausdruck.
»Dann beglückwünsche ich dich, Exzellenz«, sagte Gohar. »Das siehst du ganz richtig. Ich bin der Mörder.«
Dieses unerwartete Geständnis hatte auf Nour El Dine die Wirkung einer Katastrophe. Er schüttelte heftig den Kopf und fuchtelte zugleich in einer Geste energischer Abwehr mit den Händen vor seinen Augen herum.
»Was für ein Unsinn!« ereiferte er sich. »O nein, das ist einfach zu kindisch, Gohar Effendi! Dein junger Freund El Kordi kam mir auch schon so. Warum seid ihr alle so versessen darauf, ein Geständnis abzulegen? Willst du zufälligerweise etwa auch die Welt verändern?«
»Gott behüte!« sagte Gohar. »Du tust mir unrecht, Exzellenz, wenn du mich mit diesem jungen Mann gleichsetzt. El Kordi denkt vielmehr genauso wie du; auch er glaubt, daß alles nicht so einfach ist.«
Der Kaffee war fertig; Gohar goß den Inhalt der Kaffeekanne in zwei angeschlagene Tassen, dann reichte er eine davon Nour El Dine.
»Ich stehe zu deiner Verfügung«, sagte er. »Was gedenkst du zu tun?«
»Im Augenblick gedenke ich gar nichts zu tun. Ich kann dich nicht auf ein einfaches Geständnis hin festnehmen. Ich brauche Beweise. Morgen werde ich eine Entscheidung treffen. Vorher muß ich noch jemandem einige Fragen stellen; alles hängt von diesem Verhör ab.«
Plötzlich ertönte Gesang; er kam aus der Nachbarwohnung. Der Stumpf-Mann sang mit krächzender Stimme ein fröhliches, etwas verrücktes Lied. Nour El Dine hörte:
»Kutscher, bring mich nur geschwind! zur Wohnung von Zouzou!«
»Meine Güte, er singt!«
»Warum sollte er nicht singen?« fragte Gohar. »Er hat allen Grund, fröhlich zu sein.«
»Ja, zweifellos. Ich hätte trotzdem ganz gern alles verstanden.«
Nour El Dine führte die Tasse an seine Lippen und trank einen Schluck Kaffee. Der Kaffee war bitter; so bitter wie sein eigenes Leben.
Die strahlende Sonne stand hoch über den Spitzen der Minarette, als Yeghen am Rande des Platzes zögernd stehenblieb. Er wußte genau, daß er schon bald, im Innern der Polizeistation, nur noch von Ungerechtigkeit und Finsternis umgeben sein würde. Trotzdem fürchtete er sich nicht. Die Angst vor der Folter war nicht der Grund für sein Zögern. Er wurde ganz einfach von einem kindischen Wunsch beherrscht: seinen Spaziergang in der Menschenmenge noch ein wenig fortzusetzen. Er mochte es, in Erwartung des Unvorhersehbaren zu flanieren. Da er zuvor Haschisch geraucht hatte, fühlte er sich ruhig und ganz klar bei Verstand. Der Gedanke daran, den Repräsentanten der Staatsgewalt gegenüberzutreten, erfüllte ihn sogar mit einem einzigartigen Wohlbehagen.
Yeghen war auf diese Vorladung gefaßt gewesen. Seit langem schon ahnte er, daß Nour El Dine, der Polizeioffizier, Übles gegen ihn im Schilde führte. Was aber wußte dieser genau? Hielt er ihn für den Mörder, oder vermutete er nur, daß ihm die Identität des Mörders bekannt war? In jedem Fall erwartete er irgendein Geständnis von ihm. Yeghen machte sich keinerlei Illusionen über die Art und Weise, wie ihn der Offizier zu verhören gedachte. Die Folter war zur Normalität in der zivilisierten Gesellschaft geworden. Gegen einen Magenkrebs konnte man schon nichts unternehmen, und noch viel weniger gegen den von Menschen zum Zwecke der Unterdrückung anderer Menschen eingeführten Terror. Yeghen nahm die Brutalitäten der Polizei ebenso hin wie unheilbare Krankheiten und Naturkatastrophen.
Die Polizeistation befand sich auf der gegenüberliegenden Seite des Platzes. Ein einstöckiges Gebäude aus hellem Stein, dessen Fenster mit Eisenstäben vergittert waren. Anstatt den Platz zu überqueren, folgte Yeghen linker Hand dem Gehsteig; er hatte sich entschlossen, noch ein wenig zu flanieren. Es war elf Uhr morgens, und auf dem Platz wimmelte es von Menschen, deren geschäftiges Gebaren niemanden täuschen konnte. Yeghen bewunderte diese fortwährende Stagnation inmitten der Unordnung und trügerischen Betriebsamkeit. Ein geübtes Auge erkannte leicht, daß in Wahrheit weder etwas Dringliches noch etwas Aufsehenerregendes passierte. Trotz des Lärms der Straßenbahnen, der hupenden Autos, den kreischenden Stimmen der fliegenden Händler, hatte Yeghen den Eindruck, in einer Welt zu sein, in der die Bewegungen und die Worte für ein ewiges Leben bemessen waren. Diese Menge, die sich in der Ewigkeit bewegte, hatte die Wut aus ihrem Leben verbannt; sie schien von einer weisen Freude erfüllt, die keine Folter und keine Unterdrückung auszulöschen vermochte.
Yeghen dachte mit hellsichtiger Gelassenheit an das Leiden, das ihn erwartete. Nicht zum ersten Mal würde er ein Verhör durchzustehen haben; die Bestialität der Polizisten barg für ihn kein Geheimnis mehr. Bisher hatte es sich aber immer um geringfügige Delikte gehandelt, die mit dem Drogenhandel zu tun hatten. Diesmal war es etwas anderes: es ging um einen Mord. Es stellte sich die Frage, ob die Polizisten härter zuschlagen würden als sonst. Nein, sagte sich Yeghen. Unabhängig davon, ob es um eine kleine Drogensache oder um ein Schwerverbrechen ging, die Härte der Schläge wäre bestimmt die gleiche. Folglich bräuchte er keine Angst davor zu haben, schwach zu werden. Er wußte, daß der Name Gohars nie über seine Lippen kommen würde. Dabei handelte es sich keineswegs um eine Geste des Mutes oder der Opferbereitschaft für die Freundschaft. Angesichts der unzähligen Verbrechen, die ständig in der ganzen Welt begangen wurden, kam ihm der Verrat von Freunden, und selbst der seiner eigenen Mutter, unbedeutend vor. Nein, in diesem Fall ging es nicht nur um die Rettung Gohars, sondern auch darum, Nour El Dine zu zeigen, wie lächerlich die Rolle der Polizei war. Nour El Dine war die Verkörperung eines absurden Rechtssystems. Yeghen mußte ihm das Groteske seiner Situation vor Augen führen. Die Aussicht darauf rief ein Gefühl der Freude in ihm hervor, und er begann zu lachen.
Yeghen betrat die Polizeistation. Er fand sich in einem großen Raum mit weißgekalkten Wänden wieder, in dem lediglich ein großer Schreibtisch stand, hinter dem ein Gendarmeriebrigadier saß. Mit einem emsigen und ziemlich komischen Gesichtsausdruck las dieser seine Zeitung. Yeghen trat auf ihn zu, holte seine Vorladung hervor und wartete. Der Gendarmeriebrigadier unterbrach seine Zeitungslektüre und hob den Kopf.
»Worum geht’s?«
Er sah Yeghen an, als verdächtigte er ihn der schlimmsten Verbrechen. Yeghen kannte diesen Blick. Seine Häßlichkeit erregte immer die besondere Aufmerksamkeit der Polizei; für diese begriffsstutzigen Dummköpfe war er die ideale Verkörperung eines mutmaßlichen Mörders. Er lächelte und reichte dem Gendarmeriebrigadier seine Vorladung. Der nahm das Papier an sich, warf einen Blick darauf und sagte dann:
»Warte hier und rühre dich nicht von der Stelle!«
»Ich werde schon nicht davonlaufen«, sagte Yeghen.
Der Gendarmeriebrigadier drückte auf einen Knopf während er Yeghen drohende Blicke zuwarf. Kurze Zeit später erschien ein Polizist von bulliger Statur und grüßte vorschriftsmäßig.
»Zu Befehl, Brigadier!«
»Bring diesen Mann zum Herrn Offizier!«
Der Polizist grüßte nochmals und machte Yeghen dann ein Zeichen, ihm zu folgen.
»Komm!«
Yeghen folgte dem Polizisten durch einen langen schmalen Gang. Beim Anblick der breiten Schultern seines Führers fühlte er seinen Willen dahinschwinden. Einem solchen Henker in die Hände zu fallen bedeutete den sicheren Tod. Vor einer Tür blieb der Polizist stehen und klopfte an. Drinnen antwortete eine Stimme. Der Polizist öffnete die Tür und stieß Yeghen vor sich her.
»Mein Bey, der Brigadier hat mich damit beauftragt, dir diesen Mann zu bringen.«
»Gut«, sagte Nour El Dine. »Du kannst jetzt gehen.«
Mit düsterem und verzerrtem Gesicht saß der Polizeioffizier, den Kragen seines Waffenrocks geöffnet, hinter seinem Schreibtisch. Er war unrasiert und sah aus, als hätte er die ganze Nacht nicht geschlafen. Seine Augen glänzten fiebrig, und der Blick, den er auf Yeghen heftete, glich dem eines Mannes, der eine Tragödie durchlitten hatte.
»Tritt näher! Ich bin erfreut, dich zu sehen.«
»Sei gegrüßt, Herr Offizier«, sagte Yeghen.
»Du bist zu spät«, fuhr Nour El Dine fort. »Allein dafür verdientest du acht Tage Gefängnis.«
»Ich bitte um Vergebung, Exzellenz! Ich besitze keinen Wecker.«
»Hör auf mit deinen Späßen! Ich bin nicht zu Scherzen aufgelegt. Ich warne dich, dieses Mal ist es ernst. Du kommst hier nicht mehr lebend heraus.«
Ohne daß er dazu aufgefordert worden wäre, griff Yeghen nach einem Stuhl und setzte sich.
»Ich habe mein Testament bereits gemacht«, sagte er.
Nour El Dine schwieg. Er versuchte, die Wut in den Griff zu bekommen, die ihn zu erstickten drohte. Yeghen hatte ihm also bereits mit seinen ersten Worten die Unsinnigkeit dieses Verhörs vor Augen geführt. Diese Leute nahmen nie etwas ernst. Bei den Habenichtsen, dem Gesindel, das zu niederträchtigen Verbrechen prädestiniert war, fühlte sich Nour El Dine sehr viel wohler. Denen konnte er zumindest noch Angst einflößen. Diese verdorbenen Intellektuellen aber hatten die Angewohnheit, jedes Gefühl von Autorität in ihm zu zerstören. Nour El Dine hielt sich für einen vernünftigen Menschen; das heißt, er glaubte an die Regierung und an das, was die Minister in ihren Reden sagten. Er setzte blindes Vertrauen in die Institutionen der zivilisierten Welt. Die Einstellung von Yeghen und seinesgleichen verunsicherte ihn immer wieder aufs neue; sie schienen nicht zur Kenntnis zu nehmen, daß es eine Regierung gab. Sie waren nicht gegen die Regierung; sie nahmen sie einfach nicht zur Kenntnis.
»Ich werde deine dummen Scherze nicht länger hinnehmen. Du bist hier, um verhört zu werden. Es geht um Mord!«
Yeghen lächelte selig.
»Ich stehe ganz zu deinen Diensten, Exzellenz!«
Er saß zusammengekauert auf seinem Stuhl, auf alles gefaßt. Er wußte, daß das alles mit Schlägen enden würde. Er würde nichts sagen. Durch die Gitterstäbe der geschlossenen Fenster hindurch sah er das Treiben auf dem Platz und hörte den ohrenbetäubenden Lärm der Autos. Draußen ging das Leben also weiter.
»Gut«, sagte der Offizier, »fangen wir von vorne an. Ich warne dich aber noch einmal, es ist mir Ernst und ich erwarte präzise Antworten von dir. Ich bin mir sicher, daß du über viele Dinge Bescheid weißt.«
»Ich?« sagte Yeghen. »Das ist wirklich zuviel der Ehre, Herr Offizier!«
»Sag mir, warst du am Tag der Mordtat bei Set Amina?«
Yeghen tat so, als würde er nachdenken.
»Um dir die Wahrheit zu sagen, Exzellenz, ich habe geschlafen.«
»Als die junge Arnaba ermordet wurde, wo warst du da?«
»Ich sagte es dir doch schon, Exzellenz, ich habe geschlafen.«
Nour El Dine behielt die Ruhe; einen Augenblick lang schwieg er, ernst dreinblickend. Für ihn bestand kein Zweifel; Yeghen stellte sich dumm.
»Ich weiß mit absoluter Sicherheit, daß du an diesem Tag im Bordell warst. Wem bist du dort begegnet?«
»Ich habe geschlafen, Exzellenz!«
»Und während du schliefst, ist da niemand gekommen?«
»Wie soll ich das denn wissen, Exzellenz, ich habe ja geschlafen.«
»Bei Allah! Schläfst du denn immer, du Hundesohn!?«
»Entschuldige bitte, Herr Offizier, aber ich wußte nicht, daß Schlafen etwas Illegales ist.«
»Nun gut, ich werde dich schon wecken.«
Nour El Dine war am Ende; die Dummheit einer solchen Verteidigung überstieg seinen Verstand. Er schlief, dieser Teufel! Er mußte Haschisch geraucht haben, bevor er hierherkam. Er wußte, daß Yeghen imstande sein würde, bis zum Schluß an dieser unerschütterlichen Position festzuhalten.
»Ich gebe dir fünf Minuten Bedenkzeit. Danach werde ich dich schon zum Sprechen bringen.«
Yeghen wollte schon antworten, daß er geschlafen habe, aber als er merkte, daß der Offizier ihm gar keine Frage stellte, schwieg er. In fünf Minuten würde die Folter anfangen. Er begann an nichtssagende Dinge zu denken.
Nour El Dine blickte auf seine Uhr, dann lehnte er sich in seinem Sessel zurück und wartete. Dieses Verhör geriet zur Posse. Es diente lediglich dazu, sein Vertrauen in die Justiz und die Staatsmacht noch stärker zu erschüttern. Er war jetzt davon überzeugt, daß Yeghen nichts sagen würde; selbst unter der Folter würde er nichts preisgeben. Diese Haltung paßte nicht zu ihm, sie war sogar ziemlich beunruhigend. Nour El Dine war sich absolut sicher, daß Yeghen den Mörder kannte. Warum schwieg er also? Der Mörder konnte ihm nichts für sein Schweigen bezahlt haben; das Verbrechen hatte dem Täter ja nichts eingebracht. Um eine Frage der Ehre handelte es sich auch nicht. Nour El Dine kannte die Vergangenheit Yeghens gut genug, um zu wissen, daß er auf solche Werte noch nie etwas gegeben hatte.
Er fragte:
»Fürchtest du dich nicht vor Schlägen?«
»Nein«, antwortete Yeghen.
»Das ist unmöglich.«
»Im Leben eines Mannes wie ich einer bin sind Schläge nichts Ungewöhnliches, Herr Offizier! Sie sind etwas Alltägliches.«
»Du besitzt keine Würde.«
Yeghen lachte hämisch.
»Du erinnerst mich an meine Mutter«, sagte er. »Meine Mutter sagt mir immer, daß mein Vater ein ehrenwerter Mann war und ich das schwarze Schaf der Familie sei.«
»Hast du denn überhaupt kein Gefühl? Empfindest du nichts?«
»Doch, Exzellenz! Im Moment empfinde ich großes Erstaunen.«
»Welche Art von Erstaunen?«
»Ich bin erstaunt, daß ein Mann wie du seine Zeit mit so unangenehmen Spielereien vergeudet.«
»Womit sollte ich denn deiner Meinung nach meine Zeit verbringen?«
»Geh spazieren!« antwortete Yeghen.
Nour El Dine wurde leichenblaß.
»Ich sehe, daß bei dir nichts zu machen ist. Du wolltest es ja nicht anders.«
Die Tür ging auf, und herein kamen zwei Polizisten; sie musterten Yeghen, dann traten sie langsam auf ihn zu.
»Wirst du jetzt endlich reden?«
Yeghen blieb stumm. Nour El Dine gab den Polizisten ein Zeichen.
Der eine von ihnen blieb hinter Yeghen stehen, während der andere sich vor ihn stellte, bereit, jeden Augenblick auf ihn einzuschlagen.
Yeghen nahm die ganze Szene wie ein unbeteiligter Zuschauer wahr. Er sagte sich lediglich, daß es ein Fehler war zu behaupten, der Offizier würde sich unangenehmen Spielereien widmen. Für diese Art von Menschen mußte das Ganze sehr angenehm sein. Alles in allem amüsierten sich diese Leute auf ihre eigene Art und Weise. Er empfand weder Haß noch Verachtung für sie. Er fühlte sich sehr ruhig und schloß die Augen.
Der erste Schlag hätte ihm beinahe den Kopf abgerissen; er spürte einen furchtbaren Schmerz, der sofort von dem eines zweiten Schlages und dann all den anderen, die folgten, abgelöst wurde. Danach vergrößerte sich der Schmerz, bildete ein kompaktes, maßloses Ganzes. Yeghen war von der tiefen Dunkelheit eines schwarzen Abgrunds umhüllt, in der gleißende Blitze aufleuchteten. Manchmal drang die Stimme Nour El Dines an sein Ohr, der immer wieder fragte:
»Wirst du endlich reden, du Hundesohn?!«
Plötzlich hörte er trotz des Getöses in seinem Kopf ein fernes Geräusch. Dieses Geräusch erinnerte ihn an etwas, und er versuchte sich zu erinnern, woran. Es dauerte lange, bis es ihm einfiel. Der Kanonenschuß zu Mittag. Es war Mittag, und der Kanonenschuß war abgefeuert worden. Er öffnete die Augen und schrie:
»Gute Leute, es ist Mittag!«
Der Polizist, der gerade den Arm erhoben hatte, um auf ihn einzuschlagen, hielt völlig verblüfft inne.
»Ja und?« fragte er.
»Nun, ich denke, es ist Essenszeit«, sagte Yeghen mit schwacher Stimme. »Ich habe Hunger.«
Nour El Dine vergrub sein Gesicht in den Händen; er hatte das Bedürfnis loszuheulen.
»Schmeißt ihn raus«, sagte er. »Ich will ihn nicht mehr sehen.«
Die Polizisten packten Yeghen und schleppten ihn hinaus. Nour El Dine blieb völlig fassungslos allein zurück. Dann erinnerte er sich daran, daß Mittag war, und stand auf, um essen zu gehen.
Als er aus der Polizeistation auf die Straße hinaustrat, dachte Nour El Dine, daß Gohar ohne Zweifel der Mörder sei. Was aber ging ihn das jetzt noch an? Er hatte beschlossen, den Dienst zu quittieren und fortan als Bettler zu leben. Als Bettler, das war einfach; aber stolz? Wo sollte er den Stolz hernehmen? Im Augenblick empfand er nur noch maßlosen Überdruß, ein ungeheures Bedürfnis nach Frieden - einfach nur Frieden.